Donnerstag, 17. Oktober 2013

Zur Alpe di Roscera (TI), der Abbruchstelle des Valegiòn-Felssturzes bei Preonzo (15. Mai 2012)

Heute Donnerstag bin ich ins wolkenlose Tessin gefahren und habe mich einem eindrücklichen Berg- und Felssturzgebiet genähert. Am Berghang oberhalb von Preonzo, zwischen Biasca und Bellinzona, sind am frühen Morgen des 15. Mai 2012 rund 300'000 Kubikmeter Fels und Geröll losgebrochen und talwärts gedonnert. Die dabei entstandene langgezogene Absturzschneise ist auf der Vorbeifahrt an der Bergflanke gut zu erkennen. Auf einem abenteuerlichen Weg bin ich bis zur Alpe di Roscera (1517 m) aufgestiegen, wo sich die obere Abbruchkante des Felssturzes befindet. Dort sind breite und tiefe Risse im Gelände zu sehen und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis der letzte Rest dieser längst aufgegebenen Alp auch noch in die Tiefe stürzt. Das furchterregende Gelände dort oben ist mit vielen Messinstallationen überstellt, welche Alarm auslösen sollen, falls sich ein weiterer Felssturz ankündigt. 

ROUTE:  
Claro (271m / 250m) - 
über die lange Brücke nach Sgrussa / Preonzo - 
Pian Perdascio / Spineda -
Wegpunkt 397m / Wegpunkt 505m -
Tee - Frach (872m) -
Piotella / Nàseri (1043m / 1078m) -
Alpe di Roscera (1517m) / Bergsturz-Abbruchkante -
zurück nach Monte degli Stroppini / Nàseri (1043m) -
Frach (872m) - Tee - Wegpunkt 505m -
Pedena - Gnosca (271m)

Weitere Bilder im Picasa-Webalbum: 
FelssturzPreonzo
  

Route auf swisstopo mit map.schweizmobil.ch
Der ursprünglich geplante Aufstieg 

auf dem Weg entlang der Felssturzschneise 
via Piano di Bonéi und Teid 
ist nicht (mehr) möglich.


Streckenlänge ca. 15 km; 1400 m auf- und abwärts

Kurz vor 9 Uhr erreiche ich mit dem Postauto von Bellinzona her Claro, wo ich die Wanderung beginne. Um 13 Uhr werde ich die obere Abbruchstelle des Felssturzes auf der Alpe di Roscera erreichen. Beenden werde ich die Wanderung um 16 Uhr in Gnosca.

Panoramablick von Claro aus über die lange Strassenbrücke 
und auf den 1848 Meter hohen Cima d'Aspra mit der Felssturzschneise am Osthang.
Die Brücke, der ich entlanggehe, 
führt von Claro hinüber ins Industriegebiet von Preonzo 
und direkt auf den Bergsturz / Felssturz zu. 
Die über 500 Meter lange Brücke 
überquert Bahnlinie, Ticino und Autobahn. 
(Vom Ticino-Uferweg aus 
gibt es keine Aufstiegsmöglichkeit zur Brücke.)
Von Nàseri her werde ich schliesslich zur Alpe di Roscera aufsteigen.
Die Wegverbindung zwischen den Siedlungen Teid und Cher 
ist vermutlich bereits durch einen Bergsturz im Jahr 2002 unterbrochen worden. 
In der Landeskarte von 1990 führt die Wegspur noch durch das Riale Valegiòn.
Bergstürze sind in Preonzo seit dem 17. Jahrhundert dokumentiert. 
Wieder akut geworden ist die Bergsturzgefahr im Jahr 2002. 
Damals lösten sich 100'000 Kubikmeter. 
Am 15. Mai 2012 ereignete sich wieder ein Bergsturz, 
 diesmal mit 300'000 Kubikmeter Fels und Geröll. 
Quelle wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Preonzo

Zoomblick zur oberen Fels-Abbruchkante auf der Alpe di Roscera, 
welche von einem umfangreichen Messsystem überwacht wird.

Die Brücke und der dicht bevölkerte Lagerplatz darunter .....

...... liegen noch im Morgenschatten, ......

..... doch die Sonnenstrahlen sind vom Misox her im "Anzug". 
Blick talabwärts in Richtung Bellinzona. 
Dieser unterste Talabschnitt der Levintina 
zwischen Biasca und Bellinzona heisst Riviera.

Vermutlich werden hier am Fuss des Bergsturzhanges 
Auffangdämme gegen Murgänge und Felsstürze aufgeschüttet.

Eigentlich wollte ich seitlich der Felssturzschneise nach Teid aufsteigen, auf einem Weg der in der Karte (noch) eingezeichnet ist. Dabei gerate ich in diese Rebhänge auf Pian Perdascio, wo mir ein freundlicher Tessiner Weinbauer erklärt, dass hier kein begehbarer Weg (mehr) nach Piano di Bonei und Teid hochführt. Ich muss somit wieder umkehren und eine Ausweichroute wählen, die ich allerdings schon bei der Routenplanung ins Auge gefasst habe.

Da gibts kein Weiterkommen.



Ich entferne mich nun vorübergehend vom Bergsturzgebiet 
und werde mich ihm erst rund 1000 Höhenmeter weiter oben wieder nähern.

Blick zurück auf Pian Perdascio, 
wo mir zuvor der Weinbauer einen begehbaren Aufstiegs-Weg erklärt hat.

Rechts aussen die lange Strassenbrücke zwischen Preonzo (links) und Claro. 
Links unten ein grosser Auffangdamm, 
vermutlich gegen seitliche Ausbrüche aus dem Katastrophenhang.

Wann wohl ist die nächste Felsschutt-Ladung fällig?
SDA-Meldung (09.04.13):
"Die Industriebetriebe im Steinschlaggebiet von Preonzo TI sollen auf freiwilliger Basis umgesiedelt werden. Die Tessiner Regierung will Firmen, die aus der Gefahrenzone abwandern wollen, mit rund neun Millionen Franken unterstützen." Quelle: Blick 



Beim Wegpunkt 505m verlasse ich die Fahrstrasse, die von Gnosca zur Alp Nàseri hinauf führt. Ich begehe nun einen bestens rot-weiss markierten aber steilen Bergweg, der den Aufstieg abkürzt. Auf dem Rückweg am Nachmittag werde ich wieder hier ankommen und ebenfalls abgekürzt nach Gnosca absteigen.

Auf den Bergspitzen hinter Bellinzona beim Taleingang ins Misox 
verläuft die Grenze zu Italien.
Auch der 2727 Meter hohe Pizzo di Claro im Nordosten 
hat in den letzten Tagen seine Winterausrüstung verfrüht gefasst.

Die uralten Kastanienbäume ....
..... lassen sich nicht unterkriegen 
(und denken auch nicht an Umsiedlung).
Kurz nach 11 Uhr ......


..... erreiche ich das traumhaft schön und sonnig gelegene 
Alpgebiet Piotella / Nàseri / Monte degli Stroppini. 
Die verstreuten alten Steinhütten 
wurden und werden in Wochenend- und Ferienhäuser umgebaut.





Nàseri 1043m 
unter einem von Norden her "wolkenlos geföhnten" Tessiner Oktober-Himmel.

Die kleine Bergkapelle auf der Alp Nàseri.

Neugierige Geissen, .....

...... die bei Annäherung wie auf Befehl 
und unter lautem Glockengebimmel plötzlich das Weite suchen.

Auf der gegenüberliegenden Talseite die ursprüngliche Maiensässe Monti Savarù,
rechts unten der Taleingang ins Misox. 
FF-Blog: 26.01.12 / Lumino - Monti Savorù - Monastero di Sta Maria - Claro
 





Zoomblick zur Klosteranlage über Claro: Monastero di Sta Maria

Talblick Richtung Arbedo / Bellinzona.




Ich entschliesse mich, 
die Alp Nàseri in Richtung der Alpe di Roscera zu verlassen 
(und hoffe, anschliessend "vollständig" hier hin zurück zu kehren).



GPS-Aufzeichnung des Hin- und Rückwegs 
zwischen der Alp Nàseri (1043 / 1078m) und der Alpe di Roscera (1517m),
die unmittelbar über der Valegiòn-Bergsturzschneise liegt. 
Die Landeskarte ist noch nicht mit den Geländeveränderungen 
infolge des letzten Bergsturzes am 15. Mai 2012 aktualisiert worden! *)
Der ursprünglich vorhandene Verbindungsweg 
zwischen den tieferliegenden Siedlungen Teid und Cher 
ist bereits seit 2002 nicht mehr durchgängig. 
*) Link zur swisstopo-Zeitreise "175 Jahre Kartengeschichte":
Swisstopo Zeitreise

Was mich auf der Alpe di Roscera erwartet, konnte ich vorgängig im Web erkunden, beispielsweise auf Bildern, wie dieser Luftaufnahme.
 Bildquelle Blick: Es reisst den Berg in Stücke  
Aber vom Weg dort hinauf habe ich bis jetzt keine grosse Ahnung.
 


Auf der Landeskarte ist zwar zwischen der Alp Nàseri und der Alpe di Roscera ein Weg eingezeichnet. Es ist aber kein unterhaltener und offiziell markierter Wanderweg. Bald treffe ich aber auf grosse rote Markierungspunkte an den Bäumen und vermute, dass diese zu meinem Ziel führen könnten. Ich folge ihnen. Zwischendurch verliere ich die Markierungen aus den Augen und komme vom Weg ab. Mit Hilfe des GPS-Geräts finde ich wieder zurück. Es ist ein recht abenteuerlicher Wegabschnitt. Mehrmals denke ich ans vorzeitige Umkehren aber kurz darauf erblicke ich wieder eine rotes Zeichen an einem Baumstamm oder an einem Fels.

Die Umgebung wirkt gespenstisch: 
Düster und feucht sowie mit zahlreichen Baumleichen 
und Felsbrocken auf und neben der schmalen Wegspur.



Ein seltener Lichtblick durch die Baumwipfel 
dient zur moralischen Aufmunterung.
Blick auf die lange Brücke zwischen Claro und Preonzo 
und den Auffangdamm an dem ich zu Beginn der Wanderung vorbeigekommen bin. 
Dieser Tiefblick zeigt mir, 
dass ich schon ziemlich nahe am Bergsturz sein muss.

Jeder erkennbare rote Punkt hilft wieder ein Stück weiter.
Ohne diese Markierungen hätte ich schon lange "Rechts-um-Kehrt" gemacht.



Einige Male muss ich über oder durch das Geäst von umgestürzten Bäumen kriechen.

Endlich kann ich die "Unterwelt" verlassen 
und komme auf eine leicht schneebedeckte Lichtung. 
Ziel erreicht: Ankunft auf der Alpe di Roscera.

Ich treffe auf die erwarteten Risse im Boden und auf zerfallene Steinhütten, die wohl schon lange verlassen worden sind ....

...... aber auch auf ein neues Hüttchen und rundum verschiedene Messinstallationen. 
Kreuz und quer sind Kabel und Drähte verlegt. 
Wenn ich über einen Draht oder ein Gerät stolpern würde, 
gäbe es vermutlich irgendwo in einem Überwachungsbüro im Tal 
einen Bergsturz-Alarm.
 
Interferometrische Radarmessungen in Preonzo/TI

Das Gebiet um die Alpe di Roscera oberhalb Preonzo im Kanton Tessin ist schon seit Jahren in Bewegung. Der Kanton überwacht die Bewegungen mit Extensometern in den Rissen auf der Alp und vom Tal aus mittels Laserdistanzmessungen auf Spiegel in der Wand. Wir hatten schon vergangenes Jahr während ingesamt drei Messperioden die Bewegung der Felsfront mit dem interferometrischen Radar vom Tal aus gemessen. Das Gerät steht in einem Abstand von ca. 2 km Luftlinie am Hangfuss. Auf diese Distanz ist ein Radarpixel etwa 8 m breit und etwa 4 m hoch. Die Wand wird also recht hoch aufgelöst gescannt.

Im Verlaufe des Aprils 2012 bewegte sich der Fels schneller als üblich. Wir wurden daher vom Kanton Tessin angefragt, ob wir das Radar nochmals in Preonzo stationieren könnten. Am 1. Mai waren wir bereit — gerade rechtzeitig, wie sich weisen sollte. Die Messdaten des Radars wurden live ins Internet übertragen, die Verantwortlichen vom Kanton konnten mit einer Verzögerung von maximal 15 Minuten (bedingt durch die Datenprozessierung) die aktuellen und ortsaufgelösten Geschwindigkeiten in ihre Entscheidungen mit einbeziehen.

Zu Beginn bewegte sich die Front noch mit “gemässigten” etwa 1 mm pro Stunde. Die Niederschläge vom 6. und 7. Mai beschleunigten die Geschwindigkeit auf etwa 3 mm/h. Würde der Bergsturz nun bald folgen? Das Wetter besserte sich, der Berg wurde allerdings nicht langsamer. Es war aber andererseits auch keine Zunahme der Geschwindigkeit zu erkennen.  (....)

Quelle und Fortsetzung: 
http://www.geopraevent.ch/messmethoden/interferometrische-radarmessungen-in-preonzoti/

Zur Abbruchkante hin .....

...... werden die Risse breiter und tiefer. 
Vollständig überblickbar ist dieses zerrissene frühere Alpgelände
ohnhin nur aus der Luft, darum ....
.... darum hier nochmals das Luftbild von vorhin. 
Oben, hinter dem breiten Riss, 
ist das kleine Blech-Häuschen der Überwachungs-Organisation zu erkennen.


Die Absturzschneise darunter kann ich von hier oben nicht überblicken.
Ich wage mich selbstverständlich nicht über den breiten Riss hinweg 
und bis zum äussersten Rand hinaus.

Und immer wieder die Frage:  
Wann geht hier der nächste Rutsch "s'Loch abe"?



Um etwa 13:15 Uhr mache ich mich wieder auf den Rückweg 
in das Gebiet mit stabilem Boden unter den Füssen. 
Erneut bin ich froh um die roten Weg-Markierungen und das GPS-Gerät.

An dieser Stelle beende ich den Bericht 
und verweise für die weiteren Bilder 
nochmals aufs Picasa-Album.
 
Weitere INFOS:
- alpi-ticinesi.ch: Valle di Gnosca  
- SRF-Video über Felssturz (Schweiz Aktuell / 15.05.12): Naturspektakel
- NZZ: Bericht über den Felssturz bei Preonzo vom 15.05.12 (mit Video) 
- Tages-Anzeiger: "Das war ein eindrückliches Spektakel" 

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